Antrag
04.10.2024
Diesen Antrag habe ich mit Unterstützung von 88 weiteren Grünen, darunter Nina Stahr, Boris Mijatovic (MdB), Misbah Khan (MdB), Tarek al-Wazir (MdL), Awet Tesfaiesus (MdB), Tobias Bacherle (MdB), Ottmar von Holz (MdB), Erhard Grundl (MdB), Kassem Taher Saleh (MdB) zur 50. Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen gestellt. Allerdings hat er es nicht durch das Rankingverfahren geschafft und wurde somit nicht behandelt. Trotzdem bleibt er, aus meiner Sicht, zu dem Zeitpunkt ein wichtiger Beitrag, den ich gerne hier präsentiere.
Die Eskalationsspirale durchbrechen - Komplexität und Verantwortung im Nahostkonflikt und in der Nahost-Debatte in Deutschland.
In Deutschland erleben wir gegenwärtig, wie der Nahostkonflikt auch hier zu intensiven Debatten führt und das gesellschaftliche Klima beeinflusst. Die Auseinandersetzungen sind oft von starken Emotionen geprägt und bergen die Gefahr, bestehende gesellschaftliche Spannungen zu verstärken. Die Anschläge vom 7. Oktober 2023 haben in Deutschland zu Recht großes Entsetzen hervorgerufen und uns als Gesellschaft daran erinnert, dass die Sicherheit von Jüdinnen und Juden nie selbstverständlich ist und Tag für Tag erkämpft werden muss. In diesem Zusammenhang bekennen wir uns klar zum Existenzrecht Israels, das eine grundlegende Voraussetzung für die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft weltweit und den Schutz vor antisemitischen Übergriffen darstellt. Dieser Angriff hat Jüdinnen und Juden weltweit – und damit auch Hunderttausende Menschen in Deutschland – in Angst versetzt. Gleichzeitig leben in Deutschland ebenfalls Hunderttausende Menschen mit familiären, freundschaftlichen und emotionalen Verbindungen in die palästinensischen Gebiete und die gesamte umliegende Region. Sie sorgen sich genauso um ihre Angehörigen und Freunde im Gazastreifen, in der Westbank und im Libanon, sie empfinden Trauer um die Opfer der Angriffe und bangen um ihre Liebsten.
Unsere vielfältige Gesellschaft ist damit in vielerlei Hinsicht tief verwoben mit dem Schmerz und dem Leid dieser Region. Es ist daher unerlässlich, diesen Schmerz in all seinen Facetten anzuerkennen und ihm Raum in der Öffentlichkeit zu geben – unabhängig davon, ob er aus einer jüdischen, palästinensischen oder anderen Perspektive empfunden wird, unabhängig davon, wie wir politisch auf die zugrunde liegenden Konflikte blicken. Ein Blick auf den Libanon zeigt uns, wie eine Gesellschaft, die durch Vielfalt geprägt ist, auch durch Konflikte zerrissen werden kann. Es bleibt unsere gemeinsame Aufgabe, aufeinander zuzugehen, Brücken zu bauen und auch in schwierigen Zeiten Raum für gegenseitiges Verständnis zu schaffen.
Als Bündnis 90/Die Grünen möchten wir unserer Verantwortung gerecht werden und einen Beitrag dazu leisten, dass unterschiedliche Perspektiven gehört und respektiert werden. Wir stehen für eine Politik, die auf den Grundwerten der Menschenrechte, des Völkerrechts und der Demokratie basiert. Es geht darum, Räume zu schaffen, in denen ein offener und konstruktiver Austausch möglich ist — ohne Vorurteile und Ausgrenzung.
Wir sehen die Notwendigkeit, einen Umgang mit dem Nahostkonflikt zu entwickeln, der der Komplexität der Situation gerecht wird und zugleich unsere eigenen gesellschaftlichen Herausforderungen berücksichtigt. Durch Förderung von interkulturellem und interreligiösem Dialog wollen wir Brücken bauen und Radikalisierungstendenzen entgegenwirken. Bildung und Aufklärung spielen dabei eine zentrale Rolle, um Verständnis zu fördern und Vorurteile abzubauen.
Unser Ziel ist es, auch hier durch respektvollen Dialog und Zusammenarbeit Lösungen zu erarbeiten. Indem wir auch hier den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den Mittelpunkt stellen, können wir zu einer friedlicheren und gerechteren Zukunft beitragen.
1. Klare Haltung im Nahostkonflikt und Förderung des gesellschaftlichen Dialogs
Wir bekennen uns zu einer differenzierten, völkerrechtsbasierten und menschenrechtsorientierten Positionierung im Nahostkonflikt. Wir setzen uns dafür ein, dass in Deutschland Räume geschaffen und erhalten werden, die einen offenen, respektvollen und konstruktiven Dialog zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ermöglichen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, Radikalisierungstendenzen entgegenzuwirken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Dies beinhaltet die Förderung von Initiativen, die den interkulturellen und interreligiösen Austausch unterstützen und Vorurteile abbauen. Auch öffentliche Räume wie Bürgerhäuser, Theater und Hochschulen müssen diesen Dialog ermöglichen.
2. Für Frieden und Gerechtigkeit – Ablehnung von Gewalt, Forderung nach Deeskalation und Stärkung humanitärer Hilfe
Wir verurteilen entschieden die grausamen Angriffe der Hamas vom 7. Oktober 2023, die durch wahllose Gewalt gegen Zivilist*innen in Israel, durch Morde und Entführungen gekennzeichnet waren. Wir fordern die internationale Gemeinschaft eindringlich auf, die Hamas zur Rechenschaft zu ziehen und dringen auf die sofortige Freilassung aller Geiseln aus ihren Händen. Das Vorgehen der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen beobachten wir jedoch mit großer Besorgnis und unterstützen ausdrücklich eine unabhängige Untersuchung möglicher Völkerrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, zumal die israelische Regierung eine unabhängige Aufarbeitung des Hamas-Angriffs und des darauf folgenden Krieges blockiert. Die fortgesetzte Siedlungspolitik und die Besatzung der Westbank sowie die Gewalt durch radikale Siedler*innen gegen palästinensische Zivilist*innen müssen sofort beendet werden, da sie nicht nur völkerrechtswidrig sind, sondern auch ein Hindernis für den Frieden in der Region darstellen. Die gegenwärtige Politik der israelischen Regierung gefährdet die langfristige Sicherheit der israelischen Bürger*innen, da sie zu einer Eskalation der Gewalt beiträgt und die Chance auf eine dauerhafte Friedenslösung untergräbt. Anhaltende Sicherheit für Israelis wird nur möglich sein, wenn es auch anhaltende Sicherheit für Palästinenser*innen gibt, und umgekehrt. Daher geben wir die Suche nach einer politischen Vision nicht auf, in der beide Völker friedlich Seite an Seite in zwei Staaten leben.
Angesichts der akuten humanitären Krise im Gazastreifen ist die sofortige Bereitstellung umfassender Hilfe von größter Dringlichkeit. Die UNRWA leistet durch ihre Arbeit in den Bereichen Bildung, Gesundheitsversorgung und soziale Dienste einen unverzichtbaren Beitrag. Es gibt derzeit keine Alternativstrukturen, die diese Aufgaben übernehmen können. Ein Ende oder eine Unterfinanzierung der UNRWA würde zur Destabilisierung der gesamten Region führen und auch wichtige Partner wie Jordanien beeinträchtigen. Wir setzen uns nachdrücklich für eine angemessene Finanzierung der UNRWA ein. Gleichzeitig ist es entscheidend, die Organisation vor extremistischen Einflüssen zu schützen und ihre Integrität zu wahren. Wir setzen uns deshalb entschieden dafür ein, die Kontrollmechanismen und Einstellungsprozesse innerhalb der UNRWA weiter zu verbessern, um die Integrität der Organisation zu stärken und sie vor unerwünschten Einflüssen zu schützen.
3. Verteidigung der völkerrechtsbasierten Ordnung und internationaler Institutionen
Wir bekräftigen unser Bekenntnis zu einer Politik, die fest auf den Grundwerten der universellen Menschenrechte, der Demokratie und des Völkerrechts basiert. Die Vereinten Nationen und deren Institutionen, insbesondere der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof, sind zentrale Säulen einer völkerrechtsbasierten Ordnung und müssen von uns gegen Angriffe verteidigt werden. Wir verpflichten uns, in unserer Außenpolitik eine faktenbasierte, menschenrechtsorientierte und regelbasierte Herangehensweise zu verfolgen, um den Frieden und die Freiheit in Gegenwart und Zukunft zu bewahren.
4. Differenzierte Definition von Antisemitismus
Antisemitismus bedroht uns alle – er vergiftet das gesellschaftliche Miteinander, untergräbt die Grundlagen von Demokratie und Menschenrechten, das Fundament für unser Zusammenleben in Deutschland und unsere historische Verantwortung für die Sicherheit von Jüdinnen und Juden, der wir gerecht werden wollen und müssen. Aus diesem Grund setzen wir uns entschlossen gegen jede Form von Antisemitismus ein. In einer Zeit, in der Hass und Ausgrenzung zunehmen, ist es unsere gemeinsame Aufgabe, antisemitischen Tendenzen aktiv entgegenzutreten und sie klar zu benennen. Um dieses Ziel wirksam zu verfolgen, sprechen wir uns für eine differenzierte Handhabung von Antisemitismusdefinitionen aus. Die nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA-Definition) ist international weit verbreitet. Wir sehen aber die Notwendigkeit, auch weitere Definitionen wie die Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) oder das Nexus-Dokument zu berücksichtigen. Diese ermöglichen es besser, zwischen antisemitischen Aussagen und legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik klar zu unterscheiden, ohne antisemitische Tendenzen zu verharmlosen oder die Meinungsfreiheit unangemessen einzuschränken.
5. Schutz der Wissenschaftsfreiheit
Wir fordern die Wahrung der Wissenschaftsfreiheit als unverzichtbaren Grundpfeiler einer lebendigen Demokratie. Nur eine freie Wissenschaft kann die technischen und sozialen Innovationen hervorbringen, auf die wir als Industrieland angewiesen sind. Nur sie kann der Rahmen für ein Nachdenken und eine Reflexion unseres Denkens und Fühlens sein. Dazu gehört es, Ideen, Meinungen und Gedanken zuzulassen, die anstößig, ungewöhnlich oder marginal erscheinen. Staatliche Eingriffe oder administrativer Druck, die darauf abzielen, kritische wissenschaftliche Diskurse unangemessen zu beschränken, Wissenschaftler*innen aufgrund politischer Ansichten von Förderung auszuschließen oder sie zu sanktionieren, schaden uns als Gesellschaft. Das gilt besonders angesichts der Tatsache, dass unsere Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen international weitreichend vernetzt sind. Wir brauchen die Zusammenarbeit, den Dialog und auch die Auseinandersetzung mit Wissenschaftler*innen aus Südafrika ebenso wie aus Israel, aus den USA ebenso wie aus China. Deshalb ist klar, dass wir Boykottaufrufen gegen jüdische oder israelische Wissenschaftler*innen aufs strengste entgegentreten. Denn wir treten dafür ein, dass wir offene Gespräche über den Nahostkonflikt, Kolonialismus und globale Gerechtigkeit führen können – aus unterschiedlichsten Perspektiven.
6. Demut als Teil unserer historischen Verantwortung
Die Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit ist untrennbar mit unserer historischen Verantwortung verbunden. Deutschland hat aus den Verbrechen des Nationalsozialismus gelernt. Mutige Persönlichkeiten aus Politik, Verwaltung, Justiz und Zivilgesellschaft haben seit Ende des Zweiten Weltkriegs, oft gegen erhebliche Widerstände, durchgesetzt, dass Deutschland sich seiner einzigartigen Verantwortung stellt: Täter*innen der Shoah wurden juristisch zur Rechenschaft gezogen, Opfer entschädigt, das Gedenken fester Teil des öffentlichen Raums, und das Wissen um die Verbrechen des Nationalsozialismus ist integraler Bestandteil unserer Bildungspläne. Darauf können wir zu Recht stolz sein. Dieser Stolz muss aber auch anerkennen, dass diese Errungenschaften keinesfalls eine Selbstverständlichkeit waren, dass Täter*innen viel zu lang in hohen Ämtern saßen, dass die Profiteure von Arisierungen und Kollaboration deren Früchte oftmals allzu sicher behalten durften. Heute, wo diese Errungenschaften fester Teil der politischen Mitte sind, werden sie von einer wachsenden Zahl von Menschen, vor allem von Rechtsaußen, wieder in Frage gestellt.
Aus dem Wissen um die singulären Verbrechen der NS-Zeit und die Geschichte der deutschen Erinnerungskultur sollten wir daher eine Haltung der Demut und nicht der Überheblichkeit ableiten. Wir können mit ihren Errungenschaften selbstbewusst weltweit auftreten, wir können Vorbild und Orientierung sein. Zugleich müssen wir in den Dialog mit denjenigen treten, deren historische Erfahrungen sie zu anderen Perspektiven und Begrifflichkeiten im Umgang mit globaler Gewaltgeschichte geführt haben. Die Grundlagen dieses Dialogs sind für uns klar: Die unbedingte Achtung der Menschenwürde, die Anerkennung der Shoah als Menschheitsverbrechen, eine klare Orientierung an Menschenrechten und Völkerrecht.
7. Schutz der Versammlungs- und Meinungsfreiheit
Das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit ist selbstverständlich auch in der aktuellen, angespannten Lage verbrieft – unter der Bedingung, dass Demonstrationen angemeldet werden, friedlich verlaufen und die Bestimmungen des Strafrechts eingehalten werden. Dass bei Demonstrationen auch Meinungen und Standpunkte vertreten werden, die für viele an die Grenzen des Erträglichen gehen, muss eine Demokratie aushalten. Das gilt auch für die hier lebenden Palästinenser*innen sowie das Recht auf friedliche Demonstration und Solidarisierung mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen, im Westjordanland und im Libanon im Rahmen der geltenden Gesetze, nicht aber für öffentliche Aufrufe zu Terror, für Terrororganisationen oder Antisemitismus.
8. Weiterentwicklung der Erinnerungskultur, Stärkung der Präventions- und Bildungsarbeit
Wir setzen uns für eine inklusive und plurale Erinnerungskultur ein, die die vielfältigen Erfahrungen und Geschichten einer Einwanderungsgesellschaft berücksichtigt, ohne die einzigartige Bedeutung der Shoah zu relativieren. Die deutsche Kolonialgeschichte sowie aktuelle Formen von Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung müssen stärker in den Fokus der Erinnerungsarbeit rücken. Die Errichtung neuer Gedenk- und Lernorte, die all diese Themen aufgreifen, soll gefördert werden, um das öffentliche Bewusstsein zu schärfen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Diese neuen Orte dürfen ausdrücklich nicht auf Kosten der bewährten Erinnerungsarbeit an die Shoah und deren Weiterentwicklung gehen.
Zugleich plädieren wir für eine verstärkte pädagogische Präventionsarbeit gegen alle Formen von Diskriminierung und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Angesichts des grassierenden antimuslimischen Rassismus in unserer Gesellschaft sehen wir es als besonders dringlich an, diese Form der Diskriminierung klar zu benennen und aktiv dagegen vorzugehen. Bildungseinrichtungen sollen systematisch Themen wie Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus, Kolonialgeschichte und weitere Aspekte von Diskriminierung in ihren Lehrplänen verankern. Wir fordern die Förderung von Projekten, die den interkulturellen und interreligiösen Dialog unterstützen und Extremismusprävention als integralen Bestandteil der Bildungsarbeit verankern. Die Vielfalt und Unabhängigkeit der Trägerlandschaft in Bildungs- und Präventionsarbeit muss erhalten und nachhaltig gefördert werden, um der zunehmenden Polarisierung entgegenzuwirken und die demokratische Resilienz zu stärken.
9. Erweiterung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)
Wir fordern eine Reform des AGG, um die Diskriminierungstatbestände um die Merkmale Staatsbürgerschaft und Staatenlosigkeit zu erweitern. Dies ist notwendig, um allen in Deutschland lebenden Menschen einen umfassenden rechtlichen Schutz vor Diskriminierung zu bieten, unabhängig von ihrem rechtlichen Status. Zum Beispiel würden israelische Staatsbürger*innen, palästinensische Staatenlose und andere Betroffene von dieser Erweiterung profitieren, da sie derzeit nicht ausreichend vor Diskriminierung geschützt sind. Zudem soll die Antidiskriminierungsstelle des Bundes gestärkt werden, um Betroffenen effektive Unterstützung zu gewährleisten und strukturelle Diskriminierungen wirksam anzugehen.