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22.08.2025
Hungersnot in Gaza, Desinformation aus Israel – und der gefährliche Missbrauch des Antisemitismusbegriffs
Heute hat die IPC (Integrated Food Security Phase Classification) Gaza offiziell als Hungersnot (Phase 5) eingestuft. Wer diesen Begriff googelt, stößt ganz oben – gesponsert – auf ein israelisches Regierungsportal, das die IPC diskreditiert. Das ist keine Informationspolitik, das ist ein fahrlässiger Medienkrieg gegen die Wirklichkeit.
Was die IPC ist – und was „Hungersnot“ bedeutet
Die IPC ist der internationale Referenzstandard von UN-Organisationen, Regierungen und NGOs. Sie arbeitet mit einheitlicher Methodik, klar definierten Datenquellen und unabhängigen Prüfverfahren. Ihre Bewertungen sind belastbar und vergleichbar – keine Meinungen, sondern Messungen.
„Hungersnot“ ist die äußerste Kategorie, die nur dann festgestellt wird, wenn drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind:
gravierende Versorgungslücken,
weit verbreitete akute Mangelernährung (vor allem bei Kindern),
deutlich erhöhte Sterblichkeit.
Erst dann wird die Phase 5 deklariert.
Die aktuelle Einstufung beschreibt eine Strukturkrise: anhaltende Gewalt, erzwungene Vertreibung, systemische Blockaden beim Zugang zu Hilfe und Handel, der Zusammenbruch von Landwirtschaft, Märkten, Wasser-, Energie- und Gesundheitssystemen. Gaza ist eine humanitäre Katastrophe.
Wie gemessen wird – und was Desinformation behauptet
Die Lage wird nicht „geschätzt“, sondern durch die Kombination mehrerer Datenstränge, Feld-Screenings und unabhängiger Überprüfung ermittelt. Wo Sterblichkeitszahlen fehlen, werden anerkannte Gesundheits- und Kontextindikatoren trianguliert. Das Verfahren ist dokumentiert und überprüfbar.
Genau hier setzt Desinformation an. Ein israelisches Propagandanarrativ behauptet, die Hungersnot sei „durch veränderte Methodik erfunden“ – man habe die Messung „gedreht“, um höhere Werte zu produzieren. Das ist schlicht falsch.
Die Fakten:
WHZ (Weight-for-Height Z-Score): Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße, nach WHO-Normen.
MUAC (Mid-Upper Arm Circumference): Oberarmumfang mit Messband.
Beide Verfahren sind WHO-anerkannt, beide identifizieren gefährdete Kinder. Die oft zitierten 30 % (WHZ) und 15 % (MUAC) sind äquivalente Schwellenwerte für extrem verbreitete akute Mangelernährung – wie Celsius und Fahrenheit: verschiedene Skalen, gleiche Aussage.
Dass in Gaza oft MUAC genutzt wird, hat praktische Gründe: Unter Bombardierung und Vertreibung braucht es ein Verfahren ohne Messbrett, Waage oder Strom – schnell, robust, zuverlässig. Ohne MUAC gäbe es vielerorts gar keine Daten.
Mit einem Messband lässt sich keine Hungersnot „erfinden“. Die IPC verlangt immer die Kombination mehrerer Säulen – Ernährung, Versorgung, Mortalität – plus unabhängiges Review. Ein Methoden-Switch kann eine Hungersnot nicht herbeizaubern.
Verschleierung statt Aufklärung
Wenn die fachliche Bewertung steht, wird ihre Legitimität zum Angriffspunkt. Statt die Lage zu adressieren, verlagert die israelische Regierung die Debatte auf die angebliche „Parteilichkeit“ der Messung. Der Spin („tailor-made“, „Kriterien verbogen“) soll Standards diskreditieren – obwohl diese Schwellen seit Jahren weltweit gelten, auch dort, wo kein Krieg tobt.
Eskalation: „Blood libel“
Diese Linie kulminierte nun darin, dass Premierminister Netanjahu die Vorwürfe der Hungersnot als „blood libel“ brandmarkte – einen Begriff, der für eine der ältesten antisemitischen Hetzerzählungen steht.
Das ist doppelt verheerend:
Es stempelt UN-Standards, Hilfsorganisationen und Journalistinnen implizit zu Antisemitinnen.
Es entwertet den Begriff selbst – mit massiven Folgen für jüdische Communities weltweit.
Warum das für uns brandgefährlich ist
Wenn „Antisemitismus“ als Abwehrlabel missbraucht wird, schwächt das die Fähigkeit, echten Antisemitismus klar zu benennen. Behörden, Medien und Gesellschaft zögern länger, weil sie den Begriff zuvor als politische Waffe erlebt haben. Anzeigen werden seltener gestellt, Verfahren seltener geführt, Schutzmaßnahmen später eingeleitet.
Die Strategie ist durchsichtig: Kritik soll delegitimiert werden, indem man ihr den Antisemitismusstempel aufdrückt. Doch die Wirkung ist das Gegenteil: Echte Antisemiten rücken in die gesellschaftliche Mitte, weil der Begriff ausgehöhlt wird. Positionen, die offenkundig antisemitisch sind, laufen dann als „legitime Gegenposition“ mit.
Unsere Pflicht: Trennschärfe
Gerade deshalb braucht es Klarheit:
Antisemitismus präzise benennen und sanktionieren.
Belegte Kritik an Regierungshandeln nicht als Judenhass etikettieren.
Missbrauch des Antisemitismusbegriffs offen zurückweisen.
Schluss
Netanjahu gefährdet mit dieser Politik nicht nur Israels Zukunft, sondern auch die Sicherheit von Jüdinnen und Juden weltweit – und den Kampf gegen Judenhass. Es ist unsere Pflicht, uns dagegen zu wehren.