Medien
21.07.2024
»Ich kenne niemanden, den die Toten in Gaza kaltlassen«
Streitgespräch zwischen Daniel Eliasson und Güner Balci über Staatsräson, Antisemitismus und Nahostdebatten in Deutschland
Erstveröffentlichung: DER SPIEGEL 30/2024
Interview: Anna Reimann und Christoph Schult
SPIEGEL: Frau Balci, Herr Eliasson, vor neun Monaten überfielen Hamas-Terroristen Israel, ermordeten rund 1.200 Menschen und nahmen Hunderte Geiseln. In dem darauffolgenden Krieg in Gaza wurden Zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser bei israelischen Angriffen getötet, darunter sehr viele Kinder. Die einen sagen, das Leid der Israelis sei schon nach wenigen Tagen in den Hintergrund gerückt, die andere Seite behauptet, für den Schmerz der Palästinenser sei in Deutschland kein Platz. Wie sehen Sie es?
Daniel Eliasson: Beides stimmt, wenn man sich die Milieus jeweils einzeln anschaut. In Bezug auf die Öffentlichkeit sehe ich aber eine Schlagseite: Man kann kaum behaupten, dass es hier in Deutschland in den vergangenen Monaten viel Empathie für Palästinenser gab. Ich erinnere mich an einen Text in der Jüdischen Allgemeinen, in dem es hieß, die Zivilisten in Gaza seien nicht unschuldig. Diese menschenverachtende Botschaft wurde weitertransportiert, gerade in der Zeit, in der Israel seine Kriegsführung relativ ziellos betrieben hat. Der Raum für alle, die um Menschen in Gaza trauern oder Mitgefühl fordern, ist eng.
Güner Balci: Ich sehe das anders, jedenfalls wenn ich die großen seriösen Medien betrachte. Dort wird das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza berücksichtigt. Ich kritisiere sonst viel, kann hier aber nur eine großartige, ausgewogene Berichterstattung erkennen.
Eliasson: Das eine ist, was die Presse berichtet. Das andere, wie gehandelt wird – seitens der Politik und Behörden. Ein Beispiel: Gerade wurde an einem Berliner Gymnasium die Abiturfeier abgesagt, weil abzusehen war, dass dort vielleicht Leute mit Kufija …
SPIEGEL: … dem sogenannten Palästinensertuch …
Eliasson: … auf die Bühne treten. So ein radikaler Schritt wie eine Absage einer so bedeutsamen Veranstaltung führt doch dazu, dass sich viele Menschen, Palästinenserinnen und Palästinenser, mit ihrer Trauer nicht gesehen fühlen.
SPIEGEL: Die palästinensischstämmige Politikerin Sawsan Chebli kritisierte in der taz eine verzerrte Debatte zu Gaza und sagte, von der deutschen Öffentlichkeit sei gegenüber Palästinensern, Arabern und Muslimen kaum Empathie und Solidarität zu erfahren, sondern nur Ausgrenzung, Misstrauen und »immer öfter purer Hass«.
Balci: Erstens kenne ich persönlich niemanden, den die Toten in Gaza kaltlassen, auch Leute nicht, die total proisraelisch sind. Und ich halte es für legitim, Gefühle zu äußern, wie Sie, Herr Eliasson, und auch Frau Chebli es tun. Gleichzeitig muss man bei den Fakten bleiben. Sie haben das Berliner Gymnasium genannt. Ich weiß aus Gesprächen: Es ging nicht darum, dass jemand das Palästinensertuch tragen wollte, um friedlich Trauer zu bekunden. Sondern es wurden Schülerinnen und Schüler von Mitschülern enorm unter Druck gesetzt, sich zu Gaza zu bekennen mit Unterstützung von bestimmten Gruppen von außerhalb der Schule, die den Terror der Hamas befürworten. Und das in einer Art und Weise, die nicht nur aggressiv war, sondern auch gewalttätig.
Eliasson: Ich widerspreche. Es gibt sehr wohl viele, die die Toten aus Gaza kaltlassen. Es ist doch oft so: Wenn jemand beklagt, dass das Auto einer Hilfsorganisation bombardiert wurde oder das israelische Militär ein Flüchtlingslager angegriffen hat, dann kommt von einer Seite sofort: Ja, aber daran ist die Hamas schuld, weil sie sich absichtlich unter Zivilisten mische. Das stimmt auch oft, aber es sind doch unschuldige Menschen gestorben, haben Angehörige verloren. Das gilt es zu sehen und Trauer anzuerkennen. Das findet tatsächlich nicht statt, der Gesprächsgegenstand wird immer wieder weg von den Opfern und allein zur Frage von Verantwortung gelenkt.
SPIEGEL: Warum ist die Debatte über den Konflikt so unversöhnlich?
Eliasson: Ich sehe neben den oft verständlichen Emotionen der betroffenen Seiten vor allem einen Grund: Der Antisemitismusvorwurf wird politisiert und missbraucht, um sich gegen Muslime zu wenden.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Eliasson: Natürlich gibt es in muslimischen Milieus problematische Haltungen. Aber so pauschalisierend, wie das von rechter Seite thematisiert wird, mit dem angeblichen Anliegen, Juden zu schützen, ist die wahre Agenda nicht die Bekämpfung von Antisemitismus. Vielmehr ist das Thema »muslimischer Antisemitismus« für viele in Deutschland ein Entlastungsdiskurs, der Antisemitismus wird zu einem Problem der »anderen« gemacht. Wenn sie wirklich gegen Antisemitismus vorgehen wollten, sollten sich Rechte in ihren eigenen Kreisen umsehen.
Balci: Extreme Rechte sind immer ein Problem, sie nutzen immer alles gegen Minderheiten, auch diesen Konflikt, um gegen Muslime zu hetzen. Deren große Mehrheit ist nicht islamistisch. Aber ich finde Ihre Aussage zu kurz gegriffen, es geht nicht um ein paar problematische Haltungen, es geht um einen tief sitzenden anerzogenen Antisemitismus in bestimmten Communitys. Reden Sie mal mit progressiven Muslimen weltweit, die versuchen, das Problem anzugehen. Wir haben eine große muslimische Gruppe, der es völlig egal ist, dass jüdische Kinder nicht sicher zur Schule gehen können, die ideologisch verbrämt und nationalistisch drauf ist. Einige Menschen, die dieses reale Problem ansprechen, müssen unter Polizeischutz leben. Mich nimmt das wirklich mit: Ich kann Ihnen von der Lebensrealität in Neukölln sagen, dass Menschen, die offensichtlich jüdisch sind, einen sehr schweren Alltag haben und dass sie jederzeit mit Gewalt rechnen müssen. Das werde ich niemals akzeptieren.
Eliasson: Das ist auch nicht akzeptabel. Ich möchte aber noch einmal betonen, was Sie gesagt haben: Die große Mehrheit der arabischstämmigen Menschen in Deutschland will mit dem Hass gegen Israel und der Gewalt nichts zu tun haben. Ich sehe aber das Problem, dass diese Menschen in der Debatte unter die Räder kommen. Dass gleichgesetzt wird, ob jemand auf einer problematischen Demonstration seinen Hass rausbrüllt oder ob jemand seinen Schmerz über das Leiden in Gaza thematisiert und mit den Menschen dort mitfühlt.
SPIEGEL: Herr Eliasson, hat der Nahostkonflikt in Ihrer Kindheit eine Rolle gespielt?
Eliasson: Wenn man als Jude in der Diaspora aufwächst, ist es ganz normal, dass Israel eine Art Identifikationsobjekt ist. Schon weil es immer wieder heißt, Israel sei für Juden ein Schutzort. Wobei ich mich mittlerweile frage, ob Israel für mich im Zweifel wirklich sicherer wäre als Deutschland. Mein Bild von Israel hat sich einschneidend verändert, als ich vor rund zehn Jahren dort war und auch Siedlungen im Westjordanland besucht habe.
SPIEGEL: Was genau hat sich da bei Ihnen verändert?
Eliasson: Ich hatte immer ein klares Bild von einem vielfältigen Ort, an dem LGBTQ-Rechte geachtet werden und Muslime gleichberechtigt am Leben teilnehmen können. In einer Siedlung habe ich einem Rabbi gelauscht, der schwärmte, ein Neffe des Rechtsradikalen Meir Kahane sei ein wichtiges Gemeindemitglied. Ich habe die Straßen gesehen, die nur Israelis nutzen dürfen, und die anderen für die Palästinenser, die Häuser der Siedler oben auf dem Hügel und die der Palästinenser im Tal. Ich finde, das Bild von Israel, das man hier in Deutschland vermittelt bekommt, muss differenzierter sein.
SPIEGEL: Über die Definition von Antisemitismus wird seit Jahren gestritten. Die Bundesregierung hat sich wie viele andere Regierungen die Definition zu eigen gemacht, die die Internationale Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) 2016 verabschiedet hat und nach der auch verbale Anschuldigungen gegen den Staat Israel als jüdisches Kollektiv antisemitisch sein können. Kritiker sagen, diese Definition berge die Gefahr, dass Kritik an israelischer Politik grundsätzlich verunglimpft werde. Wie sehen Sie das?
Eliasson: Mich regt es auf, dass es so etwas wie einen Bekenntniszwang gibt: Mit welcher Definition hältst du es? Beide Definitionen, die der IHRA und die Jerusalemer Erklärung, sind mit der Absicht entstanden, den Menschen, die Antisemitismus erkennen und bekämpfen wollen, etwas an die Hand zu geben. Die Jerusalem-Deklaration ist aus meiner Sicht präziser, weil sie auch benennt, was nicht per se antisemitisch ist und mehr darauf eingeht, wer kommuniziert. Es gibt einen Unterschied zwischen einer Person, die 40 Familienmitglieder im Gazastreifen verloren hat, und einem deutsch-deutschen Torben, der bei der Linksjugend aktiv ist und auf einer propalästinensischen Demo ist. Ich glaube schon, dass es unterschiedliche Grade an Kritik an Israel gibt, die zulässig sind, bevor wir von Antisemitismus reden.
Balci: Ich finde es wichtig, dass gerade und besonders der israelbezogene Antisemitismus mehr ins Bewusstsein der Debatten kommt. Am Ende ist er ein entscheidender Faktor, warum Jüdinnen und Juden in Deutschland Gewalt erfahren. Und dass es einen Unterschied gibt, wer was sagt, finde ich total falsch. Damit, Herr Eliasson, legen Sie ja nahe, dem einen könne man zugestehen, antisemitisch zu sein, weil er mehr betroffen ist und deshalb weniger abstrahieren kann. Eine krasse Diskriminierung!
Eliasson: Das habe ich nicht gesagt! Keiner von beiden darf antisemitisch sein, aber der eine darf vielleicht schärfere Kritik an Israel äußern, weil die kein Vorurteil ist, keine Unwucht hat, sondern aus persönlicher Betroffenheit kommt.
Balci: Noch mal: Das ist eine Entmündigung. Auch Menschen, die in Gaza Angehörige verloren haben, können differenzieren. Und trotz ihrer Trauer und der miesen Situation, in der sie stecken, sind das sehr oft Menschen, die sagen: Die Hamas hat uns das eingebrockt. Das bedeutet nicht, dass sie Israel toll finden.
Eliasson: Wenn es um israelbezogenen Antisemitismus geht, wird oft der Vorwurf von Doppelstandards erhoben. Und ich finde, dieser Vorwurf trifft tatsächlich zu, wenn der deutsch-deutsche Torben Israel ständig kritisiert, aber nichts zu Russlands Krieg sagt. Wenn aber Muhammed, der 40 Angehörige aus Gaza verloren hat, Israel scharf kritisiert und nicht Russland, ist das kein doppelter Standard. Er ist persönlich betroffen von dem Leid, das der israelische Krieg in Gaza verursacht.
SPIEGEL: Frau Balci, macht es für Sie keinen Unterschied, ob ein Palästinenser aus Ramallah, dem der Übergang über bestimmte Checkpoints verwehrt wird und der hinter einer Grenzmauer lebt, die Israel-Boykottbewegung BDS unterstützt – oder ob Torben in Deutschland das macht?
Balci: Es macht einen Unterschied, ob es der Palästinenser in Berlin oder der Palästinenser in Ramallah ist. Nicht, ob das ein Torben in Deutschland oder ein Muhammed in Deutschland tut. Ich möchte allen Bürgerinnen und Bürgern hier immer auf Augenhöhe begegnen, sowohl kritisch als auch solidarisch. Ist mir völlig egal, wie derjenige heißt, welche Hautfarbe der hat, welchen kulturellen Background. Mir ist sogar egal, ob er Deutsch kann, ob der gestern eingewandert ist oder vor 30 Jahren. Wir haben in Deutschland Spielregeln. Alle gehören dazu. Wir sind EINE Gesellschaft der Vielen – mündige Bürgerinnen und Bürger.
SPIEGEL: Herr Eliasson, erleben Sie den Protest palästinensischer Menschen in Deutschland als ausschließlich problematisch?
Eliasson: Manch friedlicher Protest wird ja gar nicht gesehen. An der Freien Universität Berlin gab es wochenlang ein vom dortigen Uni-Präsidenten toleriertes propalästinensisches Protestcamp. Darüber wurde bloß kaum berichtet, solange es keinen Skandal gab.
Balci: Ich kenne kein einziges Pro-Palästina-Camp an deutschen Unis, das sich klar gegen die Terrororganisation Hamas positioniert. Ich wäre sehr dankbar, wenn es das gäbe. Was es auch nicht gibt: Eine von pro-palästinensischer Seite oder arabischstämmigen Menschen getragene große Friedensbewegung, deren Hauptbotschaft ist: Wir wollen nicht, dass auf beiden Seiten Menschen sterben. Wir wollen, dass die Geiseln freigelassen werden. Wir wollen nicht, dass die Hamas die Zivilisten in Gaza als Schutzschilde missbraucht. Wir wollen nicht, dass Frauen, Kinder, Unschuldige in ihren Häusern, in ihren Betten in Gaza bombardiert werden und wir wollen auch nicht, dass permanent Raketen auf Israel abgefeuert werden. Stattdessen gibt es in Neukölln Demonstrationen, auf denen Menschen ihren blanken Judenhass ausleben. Eine extremistische Minderheit, die stark einschüchternd unterwegs ist. Wenn mir eine konservative muslimische Mutter sagt: »Wir wollen mit Israelis und Juden Dialog, ich will auch gern, dass meine Kinder mitkommen zur Austauschreise nach Israel, aber ich habe richtig Angst vor den arabischen Leuten« – dann nehme ich das ernst.
SPIEGEL: Herr Eliasson, vermissen Sie als Jude solche Demos?
Eliasson: Ja, aber ich komme zu anderen Erklärungen. Ich sehe, dass es in manchen muslimischen Milieus ein Problem mit Einseitigkeit und auch Antisemitismus gibt. Es gibt noch einen anderen Faktor dafür, dass solche Großdemos nicht stattfinden: Viele palästinensischstämmige Menschen fühlen sich ohnmächtig und alleingelassen. Sie finden in der deutschen Gesellschaft keine Verbündeten. Und auf beiden Seiten fehlt das Vertrauen ineinander.
SPIEGEL: Vergangenen Oktober hat der Berliner Senat verfügt, dass Palästinensertücher an Schulen verboten werden können, wenn sie den Schulfrieden gefährden. Halten Sie das für klug?
Balci: Es ist richtig, wenn man den Schulen alle Mittel zur Verfügung stellt, um Konflikte zu managen. Wenn ein Schulleiter sagt: Das Tuch darf hier für eine Zeit nicht getragen werden, bis wir zusammen mit Expertinnen an dem Konflikt gearbeitet haben, dann ist das eine sinnvolle Maßnahme. Gleichzeitig sehe ich diese jungen Menschen, die sich identifizieren mit der palästinensischen Sache. Natürlich sind sie nicht alle Terrorbefürworter, sondern Jugendliche auf der Suche nach ihrer Identität. Es ist auch ein guter Anlass, um die Bedeutung des Tuches aus verschiedenen Perspektiven kennenzulernen, seinen Wissenshorizont dazu zu erweitern.
Eliasson: Das ist reiner Aktionismus. Der Schaden, der durch ein Verbot entsteht, ist groß: Wieder fühlen sich Menschen mit ihrer Sicht, die friedlich ist, ausgeschlossen und entfremden sich von Schule und Staat. Ein Symbol der Solidarität wird untersagt – das Palästinensertuch ist doch keine Hamas-Fahne. Wenn ein solch repressiver Schritt vor einer Diskussion über den Konflikt vollzogen wird, dann lassen sich die betroffenen Schüler erst recht nicht mehr erreichen.
SPIEGEL: Die Bundesregierung betont Israels Recht auf Selbstverteidigung und begründet ihre Unterstützung mit der deutschen Staatsräson. Was verstehen Sie darunter?
Balci: Wir haben Millionen jüdische Leben in diesem Land ausgelöscht. Diese Verantwortung überträgt sich auf unser gesamtes politisches Handeln. Staatsräson bedeutet für mich, dass wir Judenhass erkennen, benennen und bekämpfen, egal ob er bei uns in Deutschland oder im Ausland stattfindet. Aber auch Kritik an politischen Fehlern üben dürfen, selbst wenn sie von einem jüdischen Staat kommen. Wir müssen immer nüchtern bleiben und dürfen für keine Seite blind werden.
Eliasson: Das Problem ist, dass der Begriff Staatsräson nicht näher definiert wurde. Jeder kann darunter verstehen, was er oder sie möchte. Das nimmt teilweise schräge Züge an. Als Vizekanzler Robert Habeck nach dem Antrag auf Haftbefehl gegen Benjamin Netanyahu sagte, dass Deutschland das Völkerrecht respektiere, wurden schnell Vorwürfe laut, eine Verhaftung des israelischen Premiers auf deutschem Boden verstoße gegen die Staatsräson.
SPIEGEL: Habeck behauptete, man sehe jetzt auch gerichtlich, dass die Hungersnot, das Leid der palästinensischen Bevölkerung, die Angriffe im Gazastreifen nicht mit dem Völkerrecht vereinbar seien.
Eliasson: Ich hatte die Kritik an Habeck so verstanden, dass schon die Bereitschaft, in einem solchen Fall dem Völkerrecht zu folgen, zu dem Vorwurf führt, man verstoße gegen die Staatsräson. Schon in den Raum zu stellen, Netanyahu könnte womöglich Kriegsverbrechen begangen haben, hat dazu ausgereicht. Aus meiner Sicht muss klar sein, dass das Grundgesetz und das Bekenntnis zum Völkerrecht über und nicht unter der Staatsräson stehen.
Balci: Ich weiß, dass wir in Deutschland niemals mit zweierlei Maß messen werden, wenn es um Kriegsverbrechen geht. Diese Behauptung ist für mich Teil einseitiger propalästinensischer Propaganda.
Eliasson: Ihr Wort in Gottes Ohr.
Balci: Das wird nicht vor Gott, sondern vor Gerichten verhandelt. Das Problem ist, dass es sehr schwer ist, Kriegsverbrechen zu beweisen. Aber die Berichterstattung über mögliche Kriegsverbrechen finde ich bei uns extrem vorbildlich, wie vor Kurzem die SPIEGEL-Recherche über das zerbombte Haus in Gaza zeigte.
SPIEGEL: Wenn Außenministerin Annalena Baerbock Zweifel äußert, ob Israels Vorgehen im Einklang mit dem Völkerrecht ist, und ihr daraufhin ein Verstoß gegen die Staatsräson vorgeworfen wird, finden Sie das nicht problematisch, Frau Balci?
Balci: Das ist problematisch. Aber das ist genau der Streit, der geführt werden muss. Es ist Baerbocks Aufgabe, diese Position zu vertreten und der Kritik standzuhalten.
SPIEGEL: Die israelische Armee führt den Krieg in Gaza unvermindert weiter, obwohl auch Militärs nicht mehr davon ausgehen, dass die Hamas militärisch zu besiegen ist. Ist Ihnen die Haltung der Bundesregierung gegenüber der Regierung Netanyahus, der auch Rechtsextreme angehören, deutlich genug?
Eliasson: Auf der Sicherheitskonferenz in Herzlia hat Annalena Baerbock hinterfragt, was dieser Krieg tatsächlich noch bringt. Sie sprach von der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit der palästinensischen Autonomiebehörde und über einen Fahrplan für den »Tag nach dem Krieg«. Für mich ist das eine sehr deutliche Ablehnung der aktuellen Politik der israelischen Regierung.
Balci: Die Bundesregierung sollte die israelische Regierung viel differenzierter und deutlicher kritisieren, der Maßstab muss dafür immer eine klare Haltung zu demokratischen Werten und allem voran universellen Menschenrechten sein. Ein gutes Beispiel für eine notwendige Kritik an der Regierung sind Hunderttausende Israelis, die immer wieder dafür auf die Straße gehen. Diese Menschen brauchen unsere volle Solidarität.
SPIEGEL: Israels Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, sagte kurz nach dem 7. Oktober: »Wenn wir jetzt zurückschlagen – und wir werden zurückschlagen –, möchte ich kein ›Aber‹.« Ist das für Sie verständlich?
Eliasson: Ein »Aber« gehört zur Demokratie dazu. Es ist bedenklich, wie die israelische Botschaft in Berlin in den vergangenen Jahren Nahostexperten wie Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik oder Meron Mendel von der Bildungsstätte Anne Frank persönlich angegriffen hat. Die Staatsräson wird von offizieller israelischer Seite dazu missbraucht, in den Diskurs hierzulande einzugreifen und rote Linien zu markieren.
Balci: Ich glaube, dass die Außenministerin einen viel größeren Handlungsspielraum hat als der israelische Botschafter. Da wird es immer Differenzen geben, und die werden auch hart ausgetragen. Es wäre schwerwiegend, wenn eine Außenministerin sich dadurch einschüchtern ließe. Es gehört zu ihrem Beruf, dass sie das aushält und erträgt.
SPIEGEL: Gibt es für Sie in Berlin einen Ort, der Hoffnung symbolisiert in Bezug auf die Debatte über Nahost?
Balci: Mein Bezirk Neukölln. Ich habe da die tollsten und mutigsten Menschen getroffen nach dem 7. Oktober. Einfache Leute, die einen sehr guten moralischen Kompass haben und trotz ihrer muslimischen Betroffenheit Gewalt, Hass und Hetze gegen Juden klar ablehnen. Nehmen Sie unsere deutsch-arabische Schule Ibn Khaldoun. Die bietet jetzt sogar Hebräischunterricht an, was total irre ist für eine arabische Schule in Neukölln.
Eliasson: Für mich ist die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus ein Ort der Hoffnung. Ich kenne sie schon seit fast zehn Jahren. Es ist ein Ort, wo verschiedenste Positionen, Rabbiner, Israelis, Juden, Muslime, Deutsche, Türken, Araber, Aleviten oder Griechen aufeinandertreffen. Ein Ort der Kontroversen. Dort findet Dialog statt, man redet und streitet miteinander. Dort findet man immer Gehör und Trost.
SPIEGEL: Frau Balci, Herr Eliasson, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Erstveröffentlicht in: DER SPIEGEL 30/2024
Redaktion: Anna Reimann, Christoph Schult
Fotos: Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL